27. Juli 2024
- von Prof. Dr. Lars Leuschner -
Der BGH hat sich im Hannover 96-Urteil erstmals seit seiner Grundsatzentscheidung vom 7.7.1993 zur Problematik der sog. Satzungsdurchbrechung geäußert. Auf den ersten Blick sieht
es so aus, als habe er dabei die durch die damalige Entscheidung begründete hM bestätigt. Tatsächlich aber weicht das dem Urteil zugrunde liegende Konzept grundlegend von dem der bisher hM ab. Was
die nunmehr veröffentlichten Entscheidungsgründe erahnen lassen (vor allem Rn. 48), wird durch den Blick in die Kommentierung des Vorsitzenden des 2. Senats, Manfred Born, im BeckOGK Gewissheit
(§ 53 Rn. 62, 65, 73).
Die Kurzversion: Während nach bisher hM (grundlegend Priester ZHR 151 (1987), 40) eine zustandsbegründende Satzungsdurchbrechung dann vorliegt, wenn infolge des Beschlusses ein von der Satzung
abweichender irgendwie gearteter Zustand entsteht (Paradigma: Bestellung eines Geschäftsführers, der nicht die statutarisch vorgeschriebene Nationalität aufweist), genügt dies nach Born nicht. Seiner
Auffassung nach liegt eine zustandsbegründende Satzungsdurchbrechung nur vor, wenn der Satzung für die „Zukunft […] eine andere Form oder ein anderer Inhalt“ gegeben wird (§ 53 Rn. 62), dh eine
in Konkurrenz zur bisherigen Satzung tretende Regelung geschaffen wird. Was Born insoweit fordert, ist nach der bisher hM aber wohl gar kein Fall der Satzungsdurchbrechung. Wird die Satzung für die
Zukunft geändert, wertet sie das als gewöhnliche Satzungsänderung, die selbstverständlich nur unter Einhaltung der §§ 53, 54 GmbHG Wirksamkeit erlangen kann.
Die Essenz: Nach Auffassung von Born und des BGH sind sämtliche Beschlüsse, bei denen es sich in der Lesart der bisher hM um Satzungsdurchbrechungen handelt, als „punktuelle“ Satzungsdurchbrechungen
zu qualifizieren und daher ohne Einhaltung der §§ 53, 54 GmbHG wirksam. Übersetzt man das in die Systematik der bisherigen hM, wurde damit die Differenzierung zwischen zustandsbegründenden und
punktuellen Satzungsdurchbrechungen vollständig aufgegeben. Auch das bisherige Paradigma der zustandsbegründenden Satzungsdurchbrechung, die Bestellung des Geschäftsführers mit „falscher“
Nationalität, ist hiernach ohne Eintragung wirksam. Der Sache nach kommt das Gericht damit der in der Lit. (Zöllner, Leuschner, Pöschke) erhobenen Kritik nach, wonach die Diskriminierung
zustandsbegründender Satzungsdurchbrechungen im Widerspruch zur Wertung des § 243 Abs. 1 AktG (analog) steht.
Dass der BGH seine Abweichung von der bisherigen hM nicht offenlegt bzw. erkennt, ist unglücklich. Die Missverständnisse rund um die ohnehin von vielen Missverständnissen geprägte Diskussion werden
dadurch nicht weniger. Um die Behandlung satzungsdurchbrechender Beschlüsse für die Praxis einigermaßen vorhersehbar zu machen, kommt nun der Analyse seitens der Rechtswissenschaften eine
entscheidende Rolle zu. Insoweit sei ausdrücklich vor Schnellschüssen gewarnt.