22. Juni 2022
Der Freistaat Bayern hat den Vorschlag gemacht, dass Vereine unabhängig von einer Satzungsregelung zukünftig Mitgliedern die Möglichkeit einräumen können, virtuell an einer Mitgliederversammlung teilzunehmen (siehe Eintrag vom 12. Mai 2022). Hierbei soll es sich aber nur um eine für die Mitglieder zusätzliche Option handeln, d.h. diese können auch weiterhin auf die Durchfürhung einer Präsenzveranstaltung bestehen. Realistischer Weise ermöglicht dies Vereinen daher nur die Möglichkeit einer hybriden, nicht aber einer rein virtuellen Mitgliederversammlung. Das mag in manchen Fällen eine gute Lösung sein. Für viele Vereine wird aber der mit einer hybriden Mitgliederversammlung verbundene organisatorische und finanzielle Aufwand unverhältnismäßig groß sein.
Vor dem beschriebenen Hintergrund stellt sich die Frage, ob sich die Möglichkeit einer rein virtuellen Mitgliederversammlung in der Satzung verankern lässt. Angesichts der weitreichenden vereinsrechtlichen Satzungsfreiheit (§ 40 S. 1 BGB) ist sie zu bejahen. Einige Stimmen in der Literatur vertreten jedoch die Auffassung, für die Einführung einer entsprechenden Satzungsklausel genüge nicht die satzungsändernde Mehrheit, sondern es bedürfte eines einstimmigen Beschlusses der Mitgliederversammlung (Schmaus npoR 2022, 131, 132; Staudinger/Schwennicke § 32 Rn. 49; kritisch auch Stöber/Otto Rn. 789; Beck RNotZ 2014, 160, 168). Zur Begründung wird – ersichtlich in Parallele zu der dem Erfordernis der Allzustimmung unterworfenen Zweckänderung – angeführt, das in der Vergangenheit dem Verein beigetretene Mitglied müsse nicht damit rechnen, dass es zur Ausübung der Mitgliedschaft „technischer Ausrüstung und Fähigkeiten“ bedarf (Schmaus npoR 2022, 131, 132; ähnlich mit Blick auf die Hauptversammlung Beck RNotZ 2014, 160, 168). Ein andere Argumentation lautet, die rein virtuelle Abhaltung greife in die Mitgliedschaftsrechte „derjenigen Mitglieder ein, denen eine elektronische Teilnahme aus tatsächlichen oder technischen Gründen nicht möglich ist, und berührt damit den Kernbereich des Mitgliedschaftsrechts“ (Staudinger/Schwennicke § 32 Rn. 49; ähnlich Stöber/Otto Rn. 789: eventuell Verstoß gegen Treupflicht).
Diesem Standpunkt, der die Einführung einer rein virtuellen Mitgliederversammlung bei größeren Vereinen faktisch unmöglich macht, ist zu widersprechen. Zwar lässt sich nicht bestreiten, dass sich insbesondere manche ältere Menschen damit schwer tun werden, virtuell an einer Versammlung teilzunehmen. Den Übergang zu einer rein virtuellen Versammlung jedoch qualitativ einer Zweckänderung oder dem Ausschluss des Teilnahmerechts gleichzustellen und damit dem Mehrheitsprinzip zu entziehen, geht zu weit. Manchmal hilft es sich zu vergegenwärtigen, dass die scheinbar so neuartig und einzigartigen Herausforderungen der Digitalisierung den altbekannten Herausforderungen der analogen Welt doch recht ähnlich sind: Man stelle sich vor, ein Verein verlegt seine jährliche Mitgliederversammlung aus Kostengründen in den nicht mehr fußläufig erreichbaren Nachbarort. Auch das kann dazu führen, dass einzelne Mitglieder, die über kein Auto verfügen, ohne fremde Hilfe nicht mehr an der Mitgliederversammlung teilnehmen können. Würde man hier auf die Idee kommen, von einem Eingriff in den Kernbereich der Mitgliedschaft, einem Verstoß gegen die Treuepflicht oder gar einem einer Zweckänderung vergleichbaren Vorgang zu sprechen? Wohl kaum. Der Blick in die Kommentare zeigt vielmehr, dass sofern nicht beachtliche Teile der Mitgliedschaft betroffen sind oder der Ortswechsel missbräuchlich ist, eine entsprechende Veränderung vom einberufenden Vorstand im Alleingang beschlossen werden kann (statt vieler BeckOGK/Notz, § 32 Rn. 59; für die Aktiengesellschaft etwa Kölner KommAktG/Noack/Zetzsche § 121 Rn. 182). Erst recht würde man es hiernach als zulässig erachten, wenn der Wechsel des Versammlungsortes mit satzungsändernder Mehrheit beschlossen würde. Dass für die mit der Digitalisierung verbundenen Schwierigkeiten gänzlich andere Maßstäbe gelten sollen, will nicht einleuchten. Auch die Einführung einer rein virtuellen Mitgliederversammlung muss daher mit satzungsändernder Mehrheit möglich sein. Das von der Gegenauffassung propagierte Erfordernis der Allzustimmung, wonach jedem einzelnen Mitglied ein Vetorecht zustünde, wäre in höchstem Maße innovationsfeindlich.